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Byzantinistik in Wien

Die Geschichte der Byzantinistik in Wien geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Getrieben von einem tiefen Interesse an der griechischen Kultur sowie der politischen Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich, das von Konstantinopel aus auf den Balkan expandierte, setzten sich Untertanen des Habsburgerreichs mit Byzanz und seinem kulturellen Erbe auseinander. Eine besondere Rolle spielte Ogier Ghiselin de Busbecq (1522–1592), der als Gesandter des Kaisers an die Hohe Pforte sieben Jahre in Konstantinopel verbrachte und dabei auch andere byzantinisch geprägte Orte bereiste. Abseits seiner politischen Aufgaben erforschte er antike und mittelalterliche griechische Objekte und brachte 272 mittelalterliche Handschriften nach Wien mit. Diese wurden der Hofbibliothek einverleibt und bilden den Grundstock der heute über 1.000 Codices enthaltenden Sammlung griechischer Handschriften in der Österreichischen Nationalbibliothek. Im 18. Jahrhundert ließ sich zudem eine beträchtliche Anzahl griechischer Händler in Wien nieder. Diese Trias aus der Präsenz byzantinischer Objekte, der anhaltenden politischen Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich sowie der bedeutenden griechisch-orthodoxen Gemeinde in Wien schuf ein kulturelles Klima, das dem Byzantinischen Reich einen bedeutenden Stellenwert zumaß.

Der Grundstein für die akademische Infrastruktur der Wiener Byzantinistik wurde Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Zunächst trugen vor allem Kunsthistoriker wie Alois Riegl (1856–1902), Josef Strzygowski (1862–1941), Wladimir Sas-Zaloziecky (1896–1959) und Otto Demus (1902–1990) dazu bei, die byzantinische Kultur als eigenständigen Forschungsschwerpunkt zu etablieren. Am 20. März 1946 erhielt die Österreichische Byzantinistik durch die Gründung der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft eine offizielle Fachvertretung. Bereits 1948 richtete die Österreichische Akademie der Wissenschaften die „Byzantinische Kommission“ ein, die das Fach besonders auf Grundlage der in der Nationalbibliothek aufbewahrten Handschriften voranbringen sollte. Im Jahr 1951 wurde dann die bis heute international anerkannte Fachzeitschrift Jahrbuch der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft, später Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik und nun Journal of Byzantine Studies (JOeB)/Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik gegründet. Schließlich wurde 1961 Herbert Hunger (1914–2000) auf den ersten Lehrstuhl für Byzantinistik an der Universität Wien berufen. Im Jahr 1962 wurde das Universitätsinstitut für Byzantinistik (ab 1982 Institut für Byzantinistik und Neogräzistik) eingerichtet. Hunger gelang es, durch seine Forschung, die Ausbildung jüngerer Byzantinist*innen sowie sein wissenschaftspolitisches Engagement, unter anderem als Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1973–1982) und der Association Internationale des Études Byzantines (AIEB) (1976–1986), die Byzantinistik in Wien zu wissenschaftlicher Blüte zu treiben und institutionell massiv auszubauen. Auch Endre von Ivánka (1902-1974), ab 1961 Ordinarius für Byzantinistik an der Universität Graz, hatte Anteil an der Weiterentwicklung der Byzantinistik in Österreich. Die Zentren der Byzantinistik in Wien sind heute das Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien mit seiner etwa 55.000 Bände umfassenden Fachbibliothek sowie die Abteilung Byzanzforschung am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Auch die Central European University hat sich mit ihrem Department of Late Antique, Byzantine and Eastern Christianity Studies in kurzer Zeit zu einem wichtigen Forschungsstandort mit eigenem Studiengang entwickelt, seit die Universität 2019 nach Wien übersiedelt ist. Darüber hinaus sind Byzantinist*innen in Wien an den Theologischen Fakultäten, den Instituten für Geschichte, Archäologie und Kunstgeschichte der Universität Wien und weiteren akademischen Einrichtungen zu finden. Mit etwa fünfzig hauptamtlich beschäftigten Byzantinist*innen kann Wien aus gutem Grund als ein weltweit bedeutendes Zentrum der Byzantinistik gelten.

Die heute bearbeiteten Themen entstammen sämtlichen im Fach relevanten Disziplinen – von Geschichte über Philologie, Archäologie, Kunstgeschichte bis zu Digital Humanities und anderen. Genauso vielfältig sind die Forschungsthemen, die historische Geographie, Literaturgeschichte, Sozialgeschichte, Kunstgeschichte, Sigillographie, Paläographie, Epigraphik und Umweltgeschichte ebenso umfassen wie die Verbindungen des Byzantinischen Reiches zu Nachbarkulturen in Ost und West. Geeint werden die unterschiedlichen Forschungsprojekte durch das Interesse am Gegenwärtigen in der Vergangenheit, dem interdisziplinären Austausch und der Vernetzung einzelner Erkenntnisse, die als Puzzlestücke unseres Byzanzbildes zu einem sich stets veränderndem Ganzen zusammengesetzt werden.